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In die Tiefe tauchen: Warum uns Fische nicht egal sein sollten

Dienstag, 09 Mai, 2023

Fische sind die sinnbildlichsten Tiere des Meeres, und doch werden sie meist nur als Nahrungsmittel oder dekorative Haustiere gesehen. Man betrachte schon allein unseren Sprachgebrauch: Fische werden generell als "Bestand" bezeichnet, der gefangen und pro Tonne verkauft wird.

Transportkisten voller toter Fische auf einem Fischkutter, der im Rahmen der Operation Albacore von Sea Shepherd Global in Gabun inspiziert wurde.

Heute sind viele Menschen stolz darauf, den Schutz von Walen, Delfinen, Pinguinen und Schildkröten zu unterstützen. Sogar Haie erhalten endlich den Respekt und den Schutz, den sie als wichtige Raubfische verdienen, nachdem sie jahrhundertelang verteufelt und zu Millionen abgeschlachtet wurden. Aber die meisten Fische - und andere Arten von Meerestieren, die wir kollektiv als "Meeresfrüchte" bezeichnen - landen immer noch auf unseren Tellern, ohne dass wir auch nur im Geringsten darüber nachdenken, wie sie dorthin gekommen sind oder ob wir sie überhaupt verzehren sollten.

"Offensichtlich nutzt die Fischindustrie einen sorgfältig gewählten Wortlaut, damit potenzielle Verbraucher nicht die Art und Weise in Frage stellen, wie wir Fische und andere Lebewesen aus unseren Ozeanen fangen", schrieb Alex Cornelissen, CEO von Sea Shepherd Global, in seinem Kommentar über nachhaltige Fischerei.

Vielleicht liegt der Grund dafür, dass wir uns nur selten Gedanken über das Schicksal der geschätzten 2’700 Milliarden Wildfische machen, die jedes Jahr dem Meer entnommen werden [1], darin, dass wir einfach nicht viel über sie wissen oder verstehen ... und das, was wir zu wissen glauben, ist oft veraltet und falsch.

Zum Glück wird den Menschen jedoch immer mehr bewusst, wie komplex und faszinierend Fische wirklich sind und welche wichtige Rolle sie für die Aufrechterhaltung des Ökosystems unserer Ozeane spielen.

Fische sind für ein gesundes Ökosystem von entscheidender Bedeutung

Ein gesunder Ozean ist ohne Fische nicht denkbar. Fische spielen eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung und des Gleichgewichts der Meeresökosysteme und tragen sogar zur Eindämmung des Klimawandels bei.

- Fressen und gefressen werden: Fische sind ein wesentlicher Bestandteil des marinen Nahrungskreislaufs, da sie die Populationen ihrer Beute (einschliesslich kleinerer Fische, Krustentiere und Plankton) kontrollieren und einer Vielzahl von Meeresraubtieren wie grösseren Fischen, Seevögeln und Meeressäugetieren wie Walen Nahrung bieten. Wenn Fischpopulationen durch den Menschen dezimiert werden, kann dies zu katastrophalen Folgeeffekten führen, die zahllose andere Arten gefährden, deren Überleben von diesen gejagten Fischpopulationen abhängt.

- Für die Nährstoffgewinnung: Wenn Fische koten, werden ihre Ausscheidungen von Bakterien und anderen Mikroorganismen abgebaut. Dieser Prozess trägt dazu bei, Nährstoffe zu recyceln und sie unter anderem für Phytoplankton und Algen verfügbar zu machen, die wiederum für einen erheblichen Teil der Kohlenstofffixierung durch Photosynthese verantwortlich sind.

- Für die Schaffung von Lebensräumen: Einige Fischarten, wie z. B. Rifffische, spielen eine entscheidende Rolle bei der Schaffung und Erhaltung von Lebensräumen für andere Meeresorganismen. Papageienfische, zum Beispiel, tragen zur Erhaltung von Korallenriffen bei, indem sie Algen abgrasen und so verhindern, dass diese überwuchern und die Korallen ersticken.

- Für die Biodiversität: Es gibt etwa 34’000 bekannte Fischarten, mehr als alle anderen Wirbeltiere auf dem Planeten kumuliert. Diese Artenvielfalt ist für die allgemeine Gesundheit des Ozeans von entscheidender Bedeutung, da sie zur Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Ökosystems beiträgt.

- Für die Kohlenstoffbindung: Wenn Fische sterben und ihre Körper auf den Meeresboden sinken, tragen sie zum Abbau von Kohlendioxid in der Atmosphäre bei. Ausserdem scheiden Fische Kalziumkarbonat aus, das sich im Meerwasser auflöst und zur Speicherung von Kohlenstoff in Form von gelöstem anorganischem Kohlenstoff führt [2].

Obwohl wir wissen, wie wichtig Fische für die Erhaltung eines gesunden Ozeans sind, behandeln wir sie immer noch so, als wären sie eine unendliche Ressource. Der Fischkonsum hat sich in den letzten 50 Jahren vervierfacht und ist damit doppelt so schnell gewachsen wie die menschliche Bevölkerung. Das heisst, der Durchschnittsbürger isst heute fast doppelt so viel Fisch wie noch vor einem halben Jahrhundert. Im Jahr 1974 galten nur 10 % der weltweiten Fischbestände als "überfischt". Doch heute sind nach Angaben der United Nations Conference on Trade & Development (UNCTAD) fast 90 % der weltweiten Fischereien vollständig ausgebeutet, überfischt oder erschöpft. Mehr als die Hälfte der Fischereien vor der Küste Westafrikas sind überfischt. Deshalb kämpft Sea Shepherd Global mit den lokalen Regierungen, um die illegale, unregulierte und undokumentierte (IUU) Fischerei zu stoppen [3].

Der technologische Fortschritt hat es den industriellen Fischtrawlern leichter denn je gemacht, jährlich fast 3'000 Milliarden Fische aus den Meeren zu ziehen. Doch die von ihnen angewandten Fangmethoden sind nicht nur schädlich für das Meer und die marinen Lebensräume, sondern auch grausam für die Fische. Des Weiteren kommt der Beifang dazu, der zusätzlich in den Fischernetzen grundlos leidet und stirbt.

Sea Shepherd und die gabunische Marine inspizieren im Rahmen der Operation Albacore ein Ringwadenfischerboot.

Ja, Fische empfinden Schmerz

"Wir haben Fische weitgehend als sehr fremd und sehr simpel angesehen, so dass es uns egal war, wie wir sie töten", sagt die Fischbiologin Victoria Braithwaite. "Wenn wir uns Schleppnetze genauer ansehen, ist das für Fische eine ziemlich grausame Art zu sterben: das Barotrauma, aus dem Meer in die freie Luft gerissen zu werden und dann langsam zu ersticken – schrecklich." [4]

Es fällt uns unter anderem deshalb so schwer, eine Beziehung zu Fischen aufzubauen, weil wir glauben, dass sie keinen Schmerz empfinden. Dieses Missverständnis hielt sich so lange, weil es bis vor kurzem keine wissenschaftlichen Studien gab, die das Gegenteil bewiesen. [5]

Die von Biologen in den letzten 15 Jahren durchgeführten Forschungsexperimente haben jedoch deutliche Beweise dafür erbracht, dass Fische tatsächlich Schmerzen empfinden, genau wie Säugetiere und Vögel. [6] Tatsächlich sind Fische hochentwickelte Spezies mit scharfen Sinnen, die ihnen beispielsweise die Fähigkeit verleihen, mehr Farben als der Mensch zu sehen, über Rezeptoren am Körper zu riechen, elektromagnetische Felder wahrzunehmen oder sogar über Tausende von Kilometern zu navigieren.

"Wie könnten sie nichts fühlen?", fragte die berühmte Meeresforscherin Sylvia Earle 2018 in einem Interview im The Guardian. "Fische hatten ein paar hundert Millionen Jahre Zeit, um Dinge herauszufinden. Wir sind Neulinge. Ich finde es erstaunlich, dass viele Menschen von der Vorstellung schockiert zu sein scheinen, dass Fische fühlen."

Das bedeutet, dass es wahrscheinlich Schmerz ist - und nicht wie bis anhin behauptet einfach ein Reflex -, der die Fische dazu bringt, heftig mit dem Körper zu zucken, wenn sie am Haken hängen, und sie nach Luft schnappen lässt. Bei manchen Fischen dauert es über eine Stunde nachdem sie aus dem Wasser gezogen wurden, bis sie ersticken [7]. Und das auch nur, wenn sie nicht zuvor unter dem Gewicht der anderen Fische erdrückt wurden. Denn so funktioniert der heutige industrielle Fischfang: Die "Ware2 wird in riesigen Netzen aus dem Meer hochgezogen.

Auch wenn sich die Wissenschaftler inzwischen einig sind, dass Fische empfindungsfähige Wesen sind, die Schmerzen verspüren können, hat dies leider nichts daran geändert, wie die Fischereiindustrie sie auf unseren Tisch bringt – vor allem wenn sie im Meer gefangen werden. Industrielle Fischereimethoden, bei denen lebende Tiere zerquetscht, erstickt oder eingefroren werden, sind weiterhin völlig legal.

Tote Fische, die in den Laderaum eines Ringwadenfischereischiffs in Gabun hineinrutschen.

Die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten von Fischen

Wenn Sie sich nicht für die Bedeutung von Fischen für ein gesundes Meer begeistern können oder von ihrer Leidensfähigkeit berührt sind, können wir Sie vielleicht mit ihrem raffinierten Scharfsinn beeindrucken.

Vergessen Sie den überholten Irrglauben, dass Fische nur eine Gedächtnisspanne von drei Sekunden haben. Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass Fische erstaunlich intelligente Lebewesen mit fortgeschrittenen kognitiven Fähigkeiten sind. Fähigkeiten wie z. B. Erinnerungsvermögen, Lernfähigkeit oder auch Problemlösungsfähigkeiten.

"Fische sind intelligenter, als es den Anschein hat", schreibt der renommierte Fischforscher Professor Calum Brown in seinem Artikel Animal Minds: Not Just a Pretty Face im The New Scientist. 

"In vielen Bereichen, wie z. B. dem Erinnerungsvermögen, entsprechen ihre kognitiven Fähigkeiten denen "höherer" Wirbeltiere, einschliesslich nichtmenschlicher Primaten, oder übertreffen sie sogar. Das Beste daran ist, dass Fische angesichts der zentralen Rolle, die das Gedächtnis bei Intelligenz und sozialen Strukturen spielt, nicht nur Individuen erkennen, sondern auch komplexe soziale Beziehungen verfolgen können."

Professor Calum Brown, Fischforscher

Hier sind nur einige Beispiele:

- Sie kooperieren: Muränen und Zackenbarsche verständigen sich durch spezielle Gesten, um gemeinsam auf die Jagd zu gehen und sich gegenseitig beim Auffinden und Fangen der Beute zu unterstützen [8].

- Sie erinnern sich an Ihr Gesicht: Fische können die Gesichter der Menschen, die sie füttern, erkennen und sich daran erinnern. Wissenschaftler hielten dies bisher nur bei einigen wenigen Tieren wie Pferden, Kühen, Hunden und bestimmten Vögeln wie Tauben für möglich [9].

- Sie benutzen Werkzeuge: Stosszahnfische benutzen Felsen als Werkzeuge, um Muscheln für die Nahrungsaufnahme aufzubrechen - ein Verhalten, das erst kürzlich auf Video festgehalten wurde [10].

- Sie sind gute Kommunikatoren: Elefantenrüsselfische kommunizieren untereinander mit Hilfe von elektrischen Impulsen in ihren Schwänzen. Diese Impulse teilen alles Mögliche mit:  von der Art des Signalgebers über Geschlecht, Alter und Dominanzstatus bis hin zu emotionalen Zuständen wie Aggression, Unterwerfung und dem Balzen [11].

- Sie brauchen kein GPS: Es ist bekannt, dass Lachse aufgrund ihrer hochentwickelten sensorischen Fähigkeiten zu den besten Navigatoren gehören. Sie nutzen die Orientierung im geomagnetischen Feld und einen inneren 3D-Kompass, und verfügen sogar über einen erstaunlichen Geruchssinn, der ihren Geburtsfluss in den Meeresströmungen erkennt, um den richtigen Strömungen nach Hause zu folgen. Sie wandern bis zu 50 km pro Tag und insgesamt bis zu 3000 km stromaufwärts, um in genau denselben Süsswasserflüssen zu laichen, in denen sie geboren wurden. [12].

- Sie haben individuelle Persönlichkeiten: Sie sind nicht nur klug und können Schmerzen empfinden, sondern neue Forschungsergebnisse belegen auch, was viele Menschen, die sich in der Nähe von Fischen aufhalten, bereits wissen: Fische haben auch einzigartige Persönlichkeiten, Gefühle und ein Innenleben. Sylvia Earle nennt Zackenbarsche wegen ihrer starken Persönlichkeiten "Labrador-Retriever des Meeres". Ein riesiger Zackenbarsch namens Ulysses im Steinhart Aquarium in San Francisco legte sich auf die Seite und öffnete sein riesiges Maul, um gestreichelt zu werden. Aber nur von den Menschen, die er mochte. Denjenigen, die er nicht mochte, spritzte er Wasser entgegen [13].

- Und ... sie können fahren! Im Jahr 2021 verwendeten Wissenschaftler eine speziell entwickelte "Fisch auf Rädern"-Schnittstelle, die es Goldfischen ermöglichte, ein Roboterauto über Land zu steuern. Im Wesentlichen war dies ein durchsichtiges Becken auf einer vierrädrigen Plattform, die sich entsprechend der Ausrichtung und den Bewegungen der darin befindenden Fische bewegt. Die Fische lernten schnell, Futterpellets zu jagen [14]!

Riesenzackenbarsch in Kuba. Das Foto wurde Sea Shepherd Global von Marco Rossi zur Verfügung gestellt.

Was fehlt uns noch?

Wenn das alles noch nicht genug Gründe sind, um mit dem willkürlichen Töten von Fischen aufzuhören, dann bedenken Sie, dass viele dieser Entdeckungen über die erstaunlichen Fähigkeiten von Fischen und ihre Rolle bei der Erhaltung eines gesunden Ozeans erst in den letzten zwei Jahrzehnten gemacht wurden!

Wenn wir das alles bis vor kurzem nicht wussten, was haben wir dann noch verpasst? Was könnten wir noch herausfinden, wenn wir unsere Ressourcen dafür einsetzen würden, das Meer und die darin lebenden Meeresbewohner zu schützen und mehr über sie zu erfahren, anstatt zu versuchen, "effizientere" Wege zu finden, alles auszubeuten und zu konsumieren, bis das Meer nur noch eine tote Zone ist?

Sea Shepherd Global befindet sich derzeit im Südpolarmeer für die Operation Antarctica Defense, wo wir industrielle Supertrawler dabei beobachtet haben, wie sie auf Walschulen zielten, um den Krill direkt aus ihren Mäulern zu stehlen. Warum leeren wir eines der letzten unberührten Ökosysteme? Weil wir durch Überfischung die meisten Fische in freier Wildbahn bereits dezimiert haben und nun riesige Mengen Krill absaugen, um Zuchtfische zu füttern und Nahrungsergänzungsmittel zu verkaufen.

Netze voller Krill auf dem Deck eines Supertrawlers in der Antarktis. Foto von Sea Shepherd Global

Was können Sie tun?

1. Vermeiden Sie Fisch auf Ihrem Teller: Egal ob aus Wildfang oder ob Zuchtfisch, der mit wildem Krill aus der Antarktis gefüttert wurde. Fisch ist im Meer besser aufgehoben!

2. Achten Sie auf Ihre Worte: Wir können auch etwas bewirken, indem wir eine bedachtere Sprache verwenden, wenn wir über die Lebewesen im Ozean sprechen:

- Verwenden Sie statt "Fischbestand" "Fischpopulationen".

- Verwenden Sie statt "Meeresfrüchte" "Meereslebewesen".

- Verwenden Sie statt " gefischt" "gejagt".

3. Unterstützen Sie Operation Antarctica Defense von Sea Shepherd mit einer Spende.

 

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