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Ein Monat in der Antarktis - Erfahrungsbericht

Mittwoch, 24 Apr, 2024

Am 16. Januar legte die ALLANKAY in Ushuaia, Argentinien, ab, und nahm Kurs auf die Antarktis. Innert weniger Tage entdeckte die Crew die Flotte der Krill-Supertrawler, die fernab dem Auge der Öffentlichkeit nach Krill fischen und dabei Tod und Schaden über das gesamte Ökosystem bringen. Mit an Bord war unsere Freiwillige, Franziska, von Sea Shepherd Schweiz. Hier berichtet sie von ihren Erfahrungen.

Am Freitag, 12. Januar 2024 war es so weit. Nach vier intensiven Vorbereitungswochen packte ich meine grosse Reisetasche, meine Kamera-Bag und mein Handgepäck und machte mich auf den Weg zum Flughafen Zürich. Von dort startete ich meine fast 30stündige Reise über Rom und Buenos Aires nach Ushuaia – der südlichsten Stadt der Welt in Patagonien. Nach einer kurzen Akklimatisierungsphase ging ich am 16. Januar an Bord der ALLANKAY – voller Aufregung und Vorfreude. Endlich ging es los!

Die ALLANKAY ist ein sehr schönes Schiff, von innen genauso wie von aussen. Man spürt die grosse Kraft der Motoren und die Leichtigkeit, mit der sie über die Wellen tanzt – wie gemacht für weite Reisen an entfernte Orte. Selbst in den grossen Stürmen, die uns erwarteten, habe ich mich stets sicher gefühlt.
Dazu beigetragen hat natürlich auch die Crew – hochmotiviert, professionell und voller Leidenschaft für unsere Mission. Man passt aufeinander auf und jeder ist sich seiner Verantwortung bewusst – vom Kapitän und seinen Offizieren bis zu den Deckhands, die Maschinisten genauso wie das Kombüse-Team, von der Ärztin bis zum Media-Team. 13 Nationen, und alle halten zusammen.

Noch am selben Abend legten wir ab und fuhren durch den Beagle-Channel hinaus aufs offene Meer. Dort wandte sich die ALLANKAY nach Süden, und durchquerte über die nächsten drei Tage die bekannte Drake-Passage. Dieser erste Teil der Reise bot eine gute Möglichkeit, sich einzuleben, mit dem Tagesablauf an Bord vertraut zu werden und – zumindest in meinem Fall – herauszufinden, welche Mittel am besten gegen die Seekrankheit helfen. Die klare Routine und Struktur an Bord halfen mir, mich schnell einzufinden, und auch die Übelkeit war irgendwann überstanden. Meine Aufgabe als Teil des Media-Teams war es, Video-Material – speziell auch auf Deutsch für den deutschsprachigen Raum, zu erstellen. Dazu tauschte ich mich regelmässig mit den Chaptern in Deutschland, Österreich und zuhause in der Schweiz aus. Ich bin es mir von Beruf aus gewöhnt, mit Foto- und Video-Kameras umzugehen – allerdings ist es doch etwas anderes, das Stativ auf einem ständig schwankenden Untergrund aufzustellen oder die Kamera inmitten der starken Windböen gerade zu halten. Aber auch hier macht Übung den Meister und der gelegentliche verwackelte Clip galt dann als besonders authentisch. Trotz der Herausforderungen macht mir die Arbeit viel Spass – insbesondere weil ich so mit auf die kleinen jet-betriebenen Schnellboote durfte und damit noch viel näher an die beeindruckende Natur- und Tierwelt herankam.

Dann erreichten wir die Südlichen Orkney Inseln – eine Inselgruppe nordöstlich der antarktischen Halbinsel, die als eines der wichtigsten Rückzugsgebiete für viele Tiere gilt. Hier erholen sich Pinguine und Robben vom langen und harten antarktischen Winter, während sich viele Walarten nach monatelangen Migrationsreisen und der damit verbundenen Hungerzeit, endlich sattfressen können – an Krill, der Hauptnahrungsquelle für die meisten Tiere in der Region. Krill – so lernte ich – ist aber nicht nur die Basis des antarktischen Ökosystems. Diese kleinen Krebstierchen sind auch dafür verantwortlich, dass über ihren Stoffwechsel jedes Jahr viele Millionen Tonnen an Treibhausgasen aus der Atmosphäre gefiltert und in den Sedimenten im Meeresgrund abgelegt werden. Ein natürlicher Prozess, der das Klima auf dem ganzen Planeten stützt.

Die Ankunft bei den Südlichen Orkney Inseln war einerseits von grosser Freude geprägt – noch nie habe ich so viele wilde Tiere aus der Nähe gesehen. Buckel- und Finnwale schwammen um die ALLANKAY herum, Pelzrobben tollten in den Wellen unserer Schnellboote und grosse Scharen an Zügelpinguinen passierten uns auf ihren Jagdzügen. Es hätte eine Idylle sein können – ein fernab gelegener, friedlicher Ort, den sich verschiedene Spezies teilen und an dem grenzüberschreitend kommuniziert wird. Ich erinnere mich deutlich an die beiden Buckelwale, die so dicht neben unserem Schnellboot aufgetaucht sind, uns neugierig beobachtet haben und eine ganze Weile bei uns geblieben sind. Es hätte eine Idylle sein können – einer der wenigen Orte auf dieser Welt, an dem die Tiere sicher und wahrlich wild und frei sind. Wären da nicht die Schiffe gewesen…

Riesig, laut und stinkend – eine ganze Flotte von Krill-Trawlern, die tagein tagaus ihre riesigen Netze durch dieses kleine Gebiet ziehen – und damit Walen, Pinguinen und Robben ihrer Existenzgrundlage berauben. Mir stockte der Atem, als ich die langen und engmaschigen Netze erstmalig aus der Nähe sah, wie sie so nah an Walen, Robben und Pinguinen vorbeigezogen wurden. Einmal sahen wir einen toten Pinguin. Ja, es ist wahr – diese Schiffe steuern direkt auf Walschulen oder Pinguingruppen zu – denn dort, so wissen sie, hat es am meisten Krill. Auch schockierte mich, was für eine Masse an Krill sie zu fangen vermögen. Kaum wird das übervolle Netz unter dem Ächzen der Lastkräne eingezogen, wird es geleert und direkt wieder ausgeworfen – jeden Tag, monatelang. Denn die Krill-Flotte ist den ganzen antarktischen Sommer vor Ort. Die Wale, Pinguine und Robben haben nur wenige Wochen im Jahr, um sich auf ihre langen Migrationsrouten oder den harten, antarktischen Winter vorzubereiten. Sie müssen viel Krill fressen, ansonsten überleben sie und ihre Jungen nicht. Das geht nur in den Gebieten, in denen genug Krill vorkommt – und das sind genau die Hauptfanggebiete der Krill-Flotte. Ich habe Pinguin-Schwärme gesehen, die völlig verstört und gestresst vor diesen Schiffen hin- und hergeschwommen sind, die Luft erfüllt von ihrem aufgeregten Geschnatter, und Wale mit Kälbern, die immer wieder ihre Jagd unterbrechen müssen, um den riesigen Schiffen und ihren Netzen auszuweichen. Es gibt wissenschaftliche Studien, die belegen, was für schädliche Auswirkungen die Krill-Fischerei auf das lokale Ökosystem hat. Zudem sind die Krill-Bestände bereits dank dem Klimawandel um 80% zurückgegangen. Mir wurde übel, als ich die dichten, stinkenden Dämpfe einatmete, die von den Schiffen herströmten, auf denen der Krill industriell gekocht wurde.

Stundenlang starrte ich die grossen, hässlichen Schiffe an, die in dieser wunderbaren Natur so viel Zerstörung verursachen, und konnte den Sinn nicht finden. All das für etwas Hundefutter, Nahrungsergänzungsmittel und Farbstoff für Zuchtlachs? Besonders verstörend waren die Nachhaltigkeits-Labels, die hoch über uns auf den Rümpfen der Schiffe prangten. Ich starrte sie an, während wir ungeachtet der Kälte und Nässe stundenlang in den Schnellbooten ausharrten, um zu dokumentieren, was diese Schiffe hier am Ende der Welt anrichten. Wie kann so eine unnötige und schädliche Praxis vom MSC oder den so genannten «Friends of the Sea» gutgeheissen werden?

Wir verbrachten eine ganze Weile mit der Krill-Flotte und dokumentierten die norwegischen, chinesischen und chilenischen Schiffe sowie den ukrainischen Trawler bei ihren Aktivitäten. Dann kam die Sturmwarnung. Um dem heftigen Wetter auszuweichen, fuhren wir mit der ALLANKAY noch weiter nach Süden – vorbei an Elephant Island und dem grössten Eisberg der Welt, A23a, der vor einigen Jahren losbrach und langsam nach Norden treibt. Dort erwischten uns die Ausläufer des antarktischen Sturms und die ALLANKAY warf sich stundenlang zwischen den grossen Wellen hin und her. Ebenfalls passierten wir die südlichen Shetland-Inseln und machten einen kurzen Landgang auf der nebelverhangenen, mystischen Vulkaninsel Deception Island. Die ehemalige Walfangstation war im letzten Jahrhundert einer britischen Forschungsanlage gewichen, welche in den 1980er-Jahren aber aufgrund vulkanischer Aktivität fluchtartig aufgegeben und verlassen wurde. Es war eine fast schon gespenstische Erfahrung, zwischen den Trümmern und Überbleibseln aus einer anderen Zeit umherzuwandern. Wenige Tage später erreichten wir die antarktische Halbinsel. 

Ich habe noch nie einen so schönen, wilden und unbezwungenen Ort erlebt. Riesige Berge, begraben unter endlosen Eismassen und Gletschern, tiefe Fjorde und Krater, Eisberge in Formen und Farben, welche die grössten Künstlerinnen und Künstler unserer Geschichte sich nicht hätten ausdenken, geschweige denn sie einfangen können… ich fühlte mich wie in einen Traum versetzt. Am Anfang kam es mir so vor, als sei dieser Kontinent einfach zu gross, zu wild, zu ungebeugt für unseren kleinen Planeten Erde – bis mir klar wurde, dass es mein Denken und mein Massstab ist, die zu klein sind, um einen solchen Ort überhaupt erfassen zu können. Abgesehen von einigen sehr kleinen wissenschaftlichen Stationen und den gelegentlichen Kreuzfahrtschiffen sahen wir keinerlei Zeichen menschlicher Zivilisation. Im Angesicht der Wildheit und Grösse des antarktischen Kontinents fühlten sich die diversen, sich überlappenden Territorialansprüche lächerlich klein an – in Wahrheit sind es Papiertiger, denn die Antarktis regiert sich selbst. 

Erneut faszinierte mich die grosse Tierwelt – Schwertwale mit ihren Jungen, Südkapern, Zwergwale und Leopardenrobben sowie Adelie- und Eselspinguine waren überall. Auch unsere Gäste, ein Team der BBC-Produktionsfirma Silverback Productions, die uns auf der Kampagne begleiteten, freuten sich über die einmaligen Aufnahmen, die sie hier einfangen konnten. Das Team arbeitet an der Produktion des letzten Films von David Attenborough, der nächstes Jahr im Mai prämiert und auch das Thema Krill-Fischerei vielen Millionen Menschen zugänglich machen wird. 

Nach einigen Tagen flaute der Sturm im Norden ab und wird machten uns wieder auf den Weg zu den südlichen Orkney-Inseln und der Krill-Flotte. Ich verliess die Antarktis nur ungern – ihre Unbezwungenheit und die unbeeindruckte Wildheit hatten in mir selbst einen sehr persönlichen, bisher unerkannten Drang nach Freiheit ausgelöst, den ich irgendwie nicht mit meinem rationalen Denken und strukturierten Lebensstil in Einklang bringen kann. Es kam das Gefühl auf, dass mir durch mein strukturiertes, geregeltes Leben in der Zivilisation etwas entgeht, das ich nicht fassen konnte. Das Gefühl ist übrigens geblieben, auch heute einige Wochen nach der Reise.

Doch unsere Mission hiess nicht persönliche Selbstfindung – sondern aktiver Meeresschutz. Also vertagte ich diese ungewohnten Gedanken auf später und konzentrierte mich wieder voll auf unsere Aufgabe – die Lügen der Krill-Industrie aufzudecken und der Welt zu zeigen, was hier unten wirklich passiert. Wir erreichten die Krill-Flotte – und es waren sogar noch mehr Schiffe geworden. Sobald der Sturm sic gelegt hatte, hatten sie ihre Netze wieder ausgeworfen und waren unentwegt am Fischen. Im Vergleich zur prächtigen, ruhigen und wunderschönen Antarktis spürte ich hier den Stress, die deutlichen Konflikte zwischen den Schiffen und der Tierwelt und all die negative Energie. Die Stimmung verdüsterte sich, Mensch wie Tier schien von Unruhe getrieben zu sein und einer der Trawler kam uns – trotz unserer klaren Ansage, dass wir nur zur Dokumentation da sind und Abstand halten werden – einige Male bedrohlich nahe. Kurswechsel direkt auf unser Schnellboot, das Einschlagen eines Kollisionskurses, der uns zur Beschleunigung zwang und ein gefährlich nahes Passieren – die Botschaft war klar. Ihr seid hier unerwünscht.

Das hielt uns natürlich nicht ab, unsere Dokumentationen fortzusetzen. Dabei gelang es uns, gleich zweimal einen Vorgang zu filmen, der bisher noch nicht gesehen wurde – Transshipment Operations. Der Grund, warum diese Schiffe so lange auf See bleiben können, sind Kühlschiffe – nochmal grössere Frachtschiffe, welche die Flotte einmal pro Monat besuchen, ihren Fang an Bord nehmen und Lebensmittel bringen. Wir konnten einen solchen Frachttausch für die Norweger und für die Chinesen beobachten. Dabei zeigte sich erneut, wie viel Krill ein Trawler in nur einem Monat fangen kann. Die Operationen dauerten viele Stunden. 

Solche Operationen haben aber noch weitere Schattenseiten lernten wir von unseren Gästen, dem Team vom Outlaw Ocean Project. Diese Gruppe Investigativ-Journalisten hat kürzlich eine mehrjährige Studie zu den Zuständen in der chinesischen Fischerei-Flotte veröffentlicht, die einen weltweiten Aufschrei verursacht hat. Sie berichtet von desaströsen menschlichen Zuständen auf den Schiffen, Sklaverei, Ausbeutung und Todesfällen aufgrund von Vernachlässigung auf hoher See. Schiffe, die über Monate und Jahre nie einen Hafen anlaufen müssen, sind wie gemacht dafür. Es sind nicht nur chinesische Schiffe – und die Produkte, die aus diesen Operationen entstehen, sind sehr oft für die westlichen Märkte bestimmt. Auch in der Schweiz werden Fischprodukte und Meeresfrüchte verkauft, die von Sklaven gefangen und/oder Zwangsarbeitern verarbeitet wurden oder die von bedrohten Spezien stammen und illegal gefangen sowie falsch deklariert wurden. Ein Industrie-Insider hat mir unter der Hand einmal gesagt, dass seiner Einschätzung nach nicht mehr als 3% der in den Schweizer Supermärkten verkauften Fischprodukte wirklich nachhaltig sind – egal, welches Label vergeben wurde. Dieses Bild deckt sich mit den Erfahrungen von Sea Shepherd auf unseren Kampagnen zur Bekämpfung der illegalen Fischerei. 

Ich sass in unserem kleinen Schnellboot vor dem chinesischen Krillschiff und dem Frachtschiff, das seinen Fang übernahm, und versank in Gedanken.
Dass diese Schiffe für die Bedrohung von Walen, Pinguinen und Robben verantwortlich sind, die Grundlage des antarktischen Ökosystems zerstören und uns mit dem Krill einen der wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel berauben, war mir bewusst. Aber nun fragte ich mich, ob dort – direkt vor meiner Nase – auch Menschen in Gefangenschaft und Sklavenarbeit schuften und ihr Leben riskierten. Es bestätigte mir, was ich schon lange weiss – dass ökologische und menschliche Ausbeutung oft Hand in Hand gehen.

Einige Tage später mussten wir den Not-leidenden Tieren und der atemraubenden Landschaft den Rücken kehren und uns auf den Rückweg machen. Nach drei stürmischen Tagen in der Drake Passage erreichten wir Südamerika und legten genau einen Monat nach Abfahrt wieder in Ushuaia an. Am nächsten Tag brachte mich ein Flugzeug wieder zurück nach Hause, in mein altes Leben. Doch ich kann und möchte nicht einfach wieder anknüpfen, wo ich vorher war. Zu viel habe ich gesehen. Ich glaube daran, dass wir das, als globale, menschliche Gemeinschaft, doch besser hinkriegen müssen. Ich bin bereit, den Menschen, die hinter dieser gierigen Industrie stehen, die Stirn zu bieten und dafür zu kämpfen, dass wir die Antarktis erhalten. Sie ist viel zu wichtig, zu schön und zu wertvoll, als dass wir sie für eine Handvoll unnötiger Produkte verlieren könnten. Mein grösster Feind, so habe ich seither realisiert – sind nicht die Krill-Schiffe selbst. Sondern die Lügen dieser Industrie und das fehlgeleitete Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten – auch hier in der Schweiz – in Markennamen und Nachhaltigkeitslabel, die ihnen eine heile Welt versprechen, die es nicht gibt. 

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